114. Boston Marathon 2010
Der Boston Marathon (kurz BM) nimmt für sich in Anspruch, der älteste und traditionsreichste Marathon der Welt zu sein. Am 19. April 2010 wurde dieser Lauf über die legendäre Distanz von 42,195 km oder 26.2 Meilen zum 114. Mal ausgetragen. Er wurde zum ersten Mal, ein Jahr nach den ersten Olympischen Spielen, 1897 veranstaltet und findet seither mit einer kurzen Unterbrechung jährlich jeden dritten Montag im April am Patriots Day statt. Beim ersten Lauf 1897 nahmen 15 Teilnehmer teil, jetzt sind es 26.000 und mehr. Für den 114. Boston Marathon meldeten sich insgesamt 26.735 LäuferInnen, 23.126 nahmen tatsächlich teil, 97,9 % davon oder 22.645 schafften es über die Ziellinie in der Boylston Street.
Gerade von einem beeindruckenden Marathon-Erlebnis heim gekehrt, entschloss ich mich im Oktober 2009 spontan daran teilzunehmen.
Mit dem Entschluss alleine ist es jedoch noch nicht getan. Auf Fortuna muss der willige Läufer beim BM nicht zählen. Ist man schnell genug, dann hält man das Startticket bereits in der Hand. Es ist dies nämlich der einzige Marathon der Masters-Serie, dem Grand Slam der Marathonläufer, für den man sich sportlich qualifizieren kann und auch muss. Für meine Altersgruppe (35 – 39 Jahre) lag die Qualifikationslatte bei 3:15 Stunden, welche ich bereits in Salzburg im Mai 2009 in 2:56 Stunden locker und auch bei meinem 1. Start bei einem Masters Marathon in Berlin im September 2009 mit 2:59 Stunden übersprungen hatte. Mit einer solchen Zeit und $ 175,00 Nenngeld ist man dabei. Sofern nicht unerwartet ein Vulkanausbruch dazwischen kommt und die Anreise nach Boston vereitelt, wie es einigen hundert europäischen Läufern ergangen ist.
Dass Sylvia dieses Schicksal erspart bliebt, war einzig Glück und Vorsehung – es sollte einfach so sein, dass wir diese Reise machen sollten. Zum Zeitpunkt als wir zum Boarding unseres Flug OS 87 Richtung John Fitzgerald Kennedy Airport in Jamaika/New York City aufgerufen wurden, waren bereits sämtliche Airports in Nord-, Osteuropa, Großbritannien, Deutschland und Frankreich für den Flugverkehr geschlossen. Nur noch von Wien, Italien und Spanien durften Maschinen starten. Als ich mich meinen Sitzplatz machte die Nachricht die Runde, dass die Österreischische Aircontrol entschieden hatte, den Luftraum über Österreich ebenfalls zu schließen. Ein Blick auf die Website des ORF bestätigte das Gerücht. Jetzt wurde es spannend . Würden wir noch grünes Licht für unseren Abflug erhalten? Die Crew, jedenfalls, machte keine Anstalten, die Boardingroutine zu unterbrechen, und als schließlich “Boarding completed, doors closed” über das PA-System ertönte, war klar, dass es klappen würde mit unserem 9-stündigen Flug über den großen Teich.
Da es sich um einen Tagflug handelte, konnte man den Flug ohne notwendigen Schlaf überbrücken, ein Vorteil, denn Fliegen und Schlafen sind für mich zwei unvereinbare Komponenten. Um die Flugstrapazen so gering wie möglich zu halten, verabreichte mir Sylvia professionell und vollkommen schmerzfrei eine Thrombosespritze. Darüber hinaus machte ich stündliche Rundgänge und Dehnungsübungen, um Steifheit und Müdigkeit aus den Beinen fernzuhalten. Das war leichter gesagt, als getan. Die Gänge zwischen den Sitzreihen in der AUA Maschine sind ebenfalls so eng, dass man kaum gerade gehend durch kommt. Die einzige Möglichkeit, um sich ein wenig auszubreiten und zu dehnen, fand sich im Bereich vor den Toiletten – vorausgesetzt niemand wartete auf das Freiwerden derselben. So können neun Stunden zu einer ziemlich langen Zeit werden. Diese sollten aber auch einmal zu Ende gehen und so landeten wir überpünktlich um 14:30 Uhr Ortszeit in New York City.
(Susi, Jean-Pierre und Sylvia vor der Boston Skyline am Tag nach dem Marathon)
Die Zeitverschiebung zu Österreich beträgt sechs Stunden. Es war also im subjektiven Erleben bereits abends als wir die Maschine verließen, hurtig durch den Zoll und Passkontrolle marschierten – neben der pünktlichen Landung, ein weiterer Vorteil, der sich aus dem europäischen Flugchaos für uns ergab – und von Terminal 1 mit dem Airtrain zum Terminal 5 fuhren, um unseren JetBlue Flug um 17:30 Uhr nach Boston zu erwischen. Ich hatte sicherheitshalber einen späteren Flug gebucht, um genügend Puffer zu haben, sollten es eine Verspätung auf unserem Transatlantik-Flug geben. Da wir überpünktlich dran waren, versuchten wir am Check-in auf einen früheren Flug umzubuchen, was tatsächlich, vorerst nur als Stand-by, möglich war. Aufgrund von schlechtem Wetter gab es bei Inlandsflügen an der Ostküste bis zu 90 Minuten Verspätungen. Weil wir aber tatsächlich den früheren Flug nehmen durften, holten wir auch diese 90 Minuten wieder auf und landeten planmäßig um 19:00 Uhr am Logan International Airport in Boston, wo wir bereits von Julian, Stefan und Jean-Pierre erwartet und in Empfang genommen wurden. Im großen Dodge Minivan nahmen wir schließlich den letzten Teil unserer Anreise in Angriff. Die Fahrt von Boston nach Auburn lief ebenso reibungslos wie der gesamte Reisetag. Nach ca 50 Minuten und 45 Meilen erreichten wir schließlich müde aber zufrieden 28 Davis Road. In Österreich schlug die Uhr gerade drei Mal früh, als wir schließlich ins Bett fielen.
Nach einer durchwachsenen Nacht war ich schließlich um sechs Uhr munter. Zu meiner Überraschung fühlte ich mich frisch und wach. Meine Beine waren locker und frisch. Ich ging in die Küche zum Dehnen und setzte mich dann, um meinen AMSport Aminodrink zu mir zu nehmen. Ich überprüfte meinen Puls: 52 – 55 Schläge, 10 bis 15 Schläge über meinem Ruhepuls zwei Tage zuvor in Graz. Die Anreise und Zeitumstellung war nicht ganz spurlos an mir vorübergegangen. Ich zog mir meine Schuhe an und machte mich zusammen mit Jean-Pierre und Julian zu einem halbstündigen ReCom-Lauf auf. Draußen war es eiskalt, um den Gefrierpunkt – ideale Verhältnisse für mich. Die Wettervorhersage war nicht schlecht. So kühl wie an diesem Samstag sollte es am Montag zwar nicht sein, aber der vorhergesagte Temperaturanstieg war noch innerhalb meines Verträglichkeitsbereiches. Der erste Auslauf auf amerikanischen Boden verlief zu meiner Zufriedenheit. Ich hatte meine lockeren Beine über den Atlantik gebracht, mein Puls, jedoch, war etwas zu hoch. Und diese Parameter sollten sich bis Montag zum Marathon auch nicht mehr verändern.
Am Nachmittag brachen wir nach Boston auf um im Haynes Convention Center in der Boylston Street, jener Straße in der sich auch das Ziel des Boston Marathons befindet, meine Startnummer abzuholen. Tausende Läufer waren unterwegs und ich stellte mich auf eine ähnliche Odyssee ein, wie ich sie in Berlin erlebt hatte. In Berlin ließ man die Läufer quasi durch den gesamte Flughafen Tegel wandern,bis man so gütig war, um ihnen die Startnummern auszuhändigen. Hier in Boston war das vollkommen anders. Die Startnummernausgabe war nicht nur sehr leicht und schnell über Rolltreppen erreichbar. Es gab auch keine Schlangen und so dauerte es keine zehn Minuten bis ich meine Startnummer und mein Startsackerl ausgefasst hatte. Die Startnummernausgabe war klug durchdacht und kompromisslos auf einen raschen und unkomplizierten Ablauf ausgerichtet: Perfekte Organisation und totale Kundenorientierung – einer von mehreren Aspekten, den sich die Berliner genauer anschauen sollten.
Nach erfolgreicher Übernahme der Startnummer 2660 schauten wir noch in die großen Messehallen. Hier wurde mir erst bewusst, wievieel Leute sich in dem Gebäude aufhielten. Es wuselte nur so. Wir besuchten die Ausstellungsstände von Adidas, Powerbar und Asics, um schließlich das wilde Getümmel bald wieder zu verlassen. Wir trafen Sylvia, Susi und die Jungs, schlenderten noch ein wenig durch Bostons eleganter Einkaufsstraße Newbury Street und kehrten dann bald wieder nach Auburn zurück .
Den letzten Tag vor dem Marathon versuchte ich so ruhig wie möglich zu verbringen. Der letzte Tag vor einem großen Lauf ist besonders wichtig für mich. In den letzten 24 Stunden brauche ich viel Ruhe und Entspannung. Nach einem morgendlichen Jog mit einigen Steigerungen, verbrachte ich dann einen fast perfekten Tag ohne viel Steh- und Gehzeit. Einem guten Marathon sollte also nichts mehr im Weg stehen.
Ein großes Dankeschön auf diesem Wege nochmals an Sylvia für ihr Verständnis und vor allem die große Unterstützung vor dem Marathon.
Und schließlich war er da, der große Tag, auf den ich seit Mitte Jänner hingearbeitet hatte: 19. April 2010, Patriots Day und Tag des 114. Boston Marathons. Ich stand um 05.40 Uhr auf, half noch meinem Bruder beim Lösen seines E-Mail-Problems, duschte, kleidete mich an und ging zum Frühstück, das ich schon am Vorabend vorbereitet hatte und das Jean-Pierre für mich aufwärmte: gekochter weißer Reis mit leckerem kanadischen Ahornsirup und zwei zerquetschten Bananen – super lecker. Dazu trank ich Tee und ein paar Schluck von meinem Enervit-Drink. Eine weitere Flasche Enervit mit AM Sport Aminosäuren bereitete ich mir für den Drinkgurt für den Marathon vor.
Die Wetterlage hatte sich im Vergleich zum Vortag ziemlich radikal verändert. Die dunklen, tief hängenden Regenwolken waren zum größten Teil weiter gezogen und zum ersten Mal lachte die Sonne vom Himmel. Die Temperaturen waren an diesem Tag um bis zu zehn Grad höher sein als noch am Vortag. Das waren keine sonderlich guten Nachrichten für mich. Da es aber am Vortag nicht mehr als fünf, sechs Grad hatte, sollten sich die Temperaturen noch in für mich erträglicher Höhe halten.
Um sieben Uhr ging es los. Jean-Pierre brachte mich mit dem Subaru Outback zum Start des Marathons, der in der kleinen Provinzstadt Hopkinton ca 30 Meilen westlich von Auburn liegt. Der Boston Marathon führt von Hopkinton in einer fast geraden Linie Richtung Osten über einige kleine Städtchen und Außenbezirke Bostons in das Zentrum von Boston.
Das Streckenprofil ist auf den ersten Blick vielversprechend, handelt es sich immerhin um einen grundsätzlich abfallenden Kurs. So entsteht der Eindruck, dass es sich um einen einfachen Marathon handelt. Eine näherer Betrachtung lässt dann doch die Schwierigkeit des Boston Marathons erkennen: zu Beginn 5 km zum Teil scharf bergab mit drei Bergaufschnappern und der großen Gefahr zu schnell zu beginnen, in weiterer Folge dann viele kleine Hügel und Anstiege und eine Vielzahl von Bergabpassagen. Es geht kaum länger flach dahin, was das Finden eines guten, gleichmäßigen Laufrhythmus unmöglich macht. Schließlich warten zwischen Kilometer 28 und 32 drei giftige, längere Anstiege in den Newton Hills mit dem ominösen Heartbreak Hill zu guter Letzt. Als mich Jean-Pierre im Hopkinton State Park absetzte, von wo ich den Shuttle Bus in den Startbereich nahm, waren mir die Herausforderungen der Strecke noch nicht wirklich bewusst. Ich ging mit der Annahme ins Rennen, einen eher leichten Marathon vor mir zu haben. Ich sollte mich ziemlich täuschen.
In Hopkinton angekommen, wartete auf die Läufer einmal eine ziemlich lange und mühsame Marschiererei. Das Athlete Village liegt ungefähr 1,2 Meilen außerhalb des Zentrums, wo sich auch die Kleiderabgabe befand. Dort angekommen, stellte sich heraus, dass es keine Sitzgelegenheiten gab, das Gras vom vielen Regen nass und damit für ein Sitzen und Liegen ohne Plane, die ich nicht mit hatte, ungeeignet war. Außerdem kam noch ein eisig kalter Wind auf und obwohl ich lange Hosen und eine Jacke trug, klapperten mir bald die Zähne. Ich versuchte also die zwei Stunden bis zum Start so gut wie möglich zu überbrücken . Ich suchte in einem Zelt einen windgeschützten Platz und setzte mich auf einen Plastiksack. So konnte ich ein wenig rasten. Nach 20 Minuten begann die Feuchtigkeit des Bodens immer mehr durch das Plastik zu schleichen und ich musste aufstehen. Grundsätzlich muss aber gesagt werden, dass auch der Athletenbereich sehr gut organisiert war . Es gab Zelte, in denen Tee, Elektrolytgetränke und Powerbarriegel ausgegeben wurden. Außerdem hatte man nochmals die Anzahl der portablen Toiletten aufgestockt.
Kurz nach neun Uhr machte ich mich in Richtung Starbereich auf den Weg. Nochmals musste ich eine Meile zurücklegen, nutze aber die Gelegenheit, um mich warm zu laufen und nochmals die Toiletten aufzusuchen. So erreichte ich als einer der ersten Läufer meinen zugeteilten Starblock, der zweite von acht. Die Sonne stand nun schon recht hoch und der Wind hatte nachgelassen. Ich machte es mir am Asphalt bequem und sah zu wie die Athleten die Startbereiche zu füllen begannen. Anders als in Berlin wurde beim Zugang zum Startblock genau kontrolliert und so kam hier niemals Gedränge auf. Bis zum Start konnte man bequem stehen oder sogar sitzen. Was für ein Unterschied zum Startchaos in Berlin! Dort gab es schon auf dem Weg zum Startbereich ein unglaubliches Gedränge und richtige Staus. 20 Minuten vor dem Marathon war es dort nicht mehr möglich, in den Startblock zu gelangen. Hatte man es doch hinein geschafft, fiel das Atmen schwer weil man so eng beisammen stand. Hier in Boston wurden die einzelnen Bereiche nach und nach gefüllt, indem man die Läufer zeitgerecht aus dem Athletenbereich in den Startbereich brachte und genau kontrollierte, ob man auch in den aufgesuchten Bereich gehört: einfach gut organisiert.
Noch zehn Minuten bis zum Start als plötzlich Bewegung in die wartende Menge kam. Die Läufer erhoben sich aufgeregt und drängten Richtung Begrenzung des Startblocks. Die Topathleten näherten sich dem Startbereich und wurden geradezu enthusiastisch von den wartenden Läufern empfangen. Jubel, lautstarke Anfeuerungsrufe und Hang-loose-Gesten prägten für die nächsten fünf Minuten das Geschehen. Es war wie in einer Fußballarena. Als sich schließlich Ryan Hall seinen Weg zum Start bahnte, erreichte der Jubel eine noch lautere, ausgelassenere und euphorischere Stufe. Hall nahm die Anfeuerungen freudig auf und schien diese Energie förmlich einzuatmen. Er war top motiviert.
Plötzlich kehrte Ruhe ein. Die Amerikanische Hymne wurde angestimmt und ein hinter mir stehender, salutierender, bärtiger Ami ohne T-Shirt forderte mich auf meine Kappe abzunehmen. Das ist Amerikanischer Patriotismus . Da der Typ keinen sympathischen Eindruck machte, folgte ich brav, zog mein Kapperl vom Kopf und wartete das Ende der Hymne ab. Der Countdown begann, die Absperrungen zwischen den Korridoren wurden entfernt und schließlich gab John Kerry das Zeichen für den Start. 23.126 Läufer starteten in zwei Wellen zum 114. Boston Marthon.
Ich gehe ein paar Schritte, auf der Starlinie laufe ich dann los. Das Gedränge hält sich auf dem ersten Kilometer überraschenderweise in Grenzen. Die Durchgangszeit des ersten Kilometers beträgt 3:50 Minuten – passt. Auf den ersten fünf Kilometer geht es größtenteils bergab, jedoch gibt es ein paar Anstiege über 200 bis 300 Meter, die einen Geschmack auf die kommenden Herausforderungen geben sollten: ein kupierter Kurs, auf dem es fast unmöglich ist, einen Rhythmus zu finden. Meine erste 5-Kilometer-Durchgangszeit von 20:04 Minuten noch dazu mit einem vielversprechenden Durchschnittspuls von 152 Schlägen machte mir Hoffnung auf eine Überraschung.
Der nächste Hügel wartete und oben angekommen blies mir plötzlich eine Steife Brise ins Gesicht. War ich den vorangegangenen Kilometer noch mit 4:02 Minuten und einem Puls von 157 gelaufen, stoppte ich meinen nächsten Kilometer bei 4:18 Minuten und 160 Puls ab – Houston, we have a problem. Der Wind blieb, veränderte jedoch ständig Stärke und Richtung. Dadurch wurde es nicht leichter, einen guten Rhytmus zu finden, es fiel mir auch zunehmend schwerer mein Vorankommen zu analysieren. Gruppenbildungen gab es so gut wie keine – die ständig veränderten Verhältnisse machten ein einheitliches Lauftempo unmöglich. Einige liefen die Hügel schneller, die Bergabpassagen dafür langsamer, manche stemmten sich gegen den Wind härter, während andere bei Gegenwind deutlich nachließen. Noch dazu kam, dass nach 10 Kilometern nur noch Meilenmarker gesetzt waren. Ich war jetzt mit einer hohen 20er Zeit auf den 5 Kilometer Abschnitten unterwegs.
Mein Puls war bereits nach sieben, acht Meilen über 160 gestiegen. Ein neuer Rekord war damit jetzt schon außer Reichweite. Wie ich so auf den ersten 21 Kilometern dahinlief, war ich in erster Linie damit beschäftigt, Tempo und Laufstil so gut es ging an Wind und Streckenverlauf anzupassen und mich so ökonomisch wie möglich fortzubewegen. Wir durchquerten einige Provinzstädtchen und mit jedem wurde die Zuschauerkulisse größer und lauter.
In der Ferne taucht ein weiterer leichter Anstieg und die Geräuschkulisse ändert sich langsam aber merklich. “Was ist denn da los?” Wie ich den Hügel hoch laufe, sehe ich wie Hunderte von weiblichen Teensdie Straße säumen. Sie sind aufgeregt. Nein, sie sind knapp dran auszuflippen. Sie kreischen, sie schreien, sie halten uns Läufern Transparente vor die Nase: “Kiss me!” “I love you!” “Merry me!” “I am willing!” Ich bin perplex. Einfach unfassbar, was da abgeht. Eine Truppe Soldaten hat alle Hände voll zu tun, um die Straße für die Läufer frei und die Mädchen im Zaum zu halten – die Mädels sind kaum zu bändigen.
In 1:27:32 Stunden erreiche ich den Halbmarathon. Meine Beine sind nicht mehr sonderlich gut, aber ich spüre, dass ich von der Substanz her – was das Durchhaltevermögen betrifft – einen guten Tag habe. Ich weiß, dass noch drei giftige Anstiege auf mich wartete und richte meine Lauftaktik neu aus. Oberstes Ziel ist es, in einem angemessenen Tempo über diese Hügel zu kommen, Krämpfe zu vermeiden und nicht zuviel Zeit liegen zu lassen. Somit würde es möglich sein, eine Zeit unter 3 Stunden zu schaffen. Die nächsten Kilometer sind hart. Ein neuer Halbmarathon hat gerade begonnen und auf den erste Kilometern befindet man sich in einer Art Niemandsland. Hier angekommen ist es für mich besonders wichtig, meine Gedanken bewusst zu steuern. Ich teile mir die verbleibende Strecke in kleine Happen: “Noch 2x 10 Kilometer, noch 4x 5 Kilometer, noch 7 Kilometer bis in die Newton Hills.” Vor allem der letzte Gedanke ist motivierend. Sieben Kilometer sind nicht viel. Und dann kommt es darauf an: auf jene 5 Kilometer in den Newton Hills. Mir ist bewusst, dass sich dort alles entscheiden wird. “Dann, wenn du da drüber bist, dann geht es nur noch bergab und dann sind es bloß noch 10 Kilometer oder gute 40 Minuten!” So arbeite ich mich Kilometer um Kilometer Richtung Newton Hills. Ich habe mich gut versorgt, regelmäßig an den alle Meilen positionierten Labestationen getrunken und geduscht, meine Powerbar Jellys gekaut, drei Enervit Gels zu mir genommen und auch die Flüssigkeitsaufnahme über die mitgeführte Trinkflasche mit Enervit und AMSport im Trinkgurt hat sehr gut funktioniert. Körperlich fühle ich mich gut. Das gibt mir Zuversicht, obwohl meine Füße bereits ziemlich leiden.
Die PowerBar Gel Station bei Meile 17 bedeutet, dass ich am Fuße der Newton Hills angekommen bin. Drei ziemlich deftige Anstiege über jeweils eine Meile oder mehr warten auf mich. Ich nehme ein PowerBar Gel, trinke einen Becher Wasser und gehe in den ersten Anstieg. Ich bin aufmerksam, gut in Kontakt mit meinem Körper und wäge mein Tempo sehr behutsam ab. Nur nicht zu schnell rauf, ist die Devise. Ein Krampf in einem Aufstieg wäre fatal. Trotzdem überhole ich einige Läufer. Ziemlich viele müssen schon gehen, einige können nicht einmal das. Ziemlich locker schaffe ich den ersten Anstieg. Jetzt geht es wieder bergab – Gelegenheit, um den Puls zu beruhigen und mich auf den nächsten Anstieg vor zu bereiten. Schon bin ich drinnen. Ich laufe sehr konzentriert und vorsichtig. Das Tempo ist in Ordnung: 7:20 Minuten für die Meile. Wieder geht es bergab, noch ein Anstieg warte: Heartbreak Hill bei Kilometer 32, der längste und steilsten von den dreien. Jetzt heißt es nochmals beißen und meine Gedanken in eine unterstützende Richtung lenken. Die Zuschauer hier sind unglaublich. Sie sind sich im Klaren darüber, was dieser Anstieg für uns Läufer bedeutet und feuern uns geradezu euphorisch an. Es läuft mir kalt über den Rücken – pure Gänsehautstimmung, unbeschreiblich. Endlich oben. Mein Körper jubelt mit einem weiteren Endorphinausstoß. Genial, Heartbreak Hill bezwungen! Ich reiße die Hände in die Höhe. Die Zuschauer antworten sofort mit Jubel und Anfeuerungen. Jetzt geht’s Richtung Ziel, jippie! Und das größtenteils bergab.
Ich drückte aufs Tempo und schaffe Meilenzeiten zwischen 6:20 und 6:35 Minuten. Doch Bergablaufen kann tückisch sein, vor allem, wenn es dann flach wird und die Hilfe der Schwerkraft ausbleibt. Bei Meile 22 werde ich spürbar müde. Ich beginne zu beißen. Jetzt wird es wirklich hart. Wieder ist mein Kopf gefragt: “Nur noch 2 x 2 Meilen!” Eine Meile geschafft, in 6:50 Minuten. Das geht noch. Die nächste Meile wird noch mühsamer: ich bin den Berg ein wenig zu euphorisch runter gelaufen. Beißen, beißen, beißen. Noch 2 Meilen, noch 1,5 Meilen, im linken Oberschenkel spüre ich wie sich mein Muskel zu verkrampfen beginnt. Ich nehme Tempo raus. Keine Erleichterung. Ich reduziere das Tempo noch mehr. Keine Reaktion des Muskels. Es bleibt nur noch gehen: ein Schritt, zwei Schritte, drei, vier, fünf, sechs. “Soll ich es wagen?” Ich fange wieder an zu laufen. Es geht. Der Muskel spielt wieder mit! Erleichterung. Vorletzte Meile in 7:30 Minuten. Jetzt wird es knapp. Noch 1.600 Meter. Ich muss Gas geben, wenn ich die drei Stunden Marke noch knacken möchte. Ich werfe nochmals alles rein, was ich an Energie, Kraft und Wille aufbringen kann. Der Speed ist gut, ich nähere mich dem Ende der Beacon Street. Dann taucht sie auf: die Unterführung. Big Sh!t. Noch knapp 1000 Meter, aber diese Bergab-, Bergaufpassage kann der Untergang sein.
Ich rede auf meinen Körper ein, bitte ihn eindringlich durchzuhalten. Nur jetzt kein Krampf. Er tut mir den Gefallen. “Danke mein Körper, you saved me.” Ich komme gut durch die Unterführung und biege nach rechts in die Hereford Street, 200 Meter leicht bergauf. Unglaubliche Menschenmassen säumen die Laufstrecke. Der Jubel und die Anfeuerungen sind ohrenbetäubend. Eine weitere Endorphineruption. Noch einmal geht es links um die Ecke. Wo ist Sylvia? Ich weiß, dass sie mit Jean-Pierre, Susi, Julian und Stefan hier irgendwo in der Menge steht und mich anfeuert, aber es sind einfach zu viele Menschen, um sie zu finden. Hoffentlich sieht sie mich. Auch den letzten Anstieg schaffe ich in einem guten Tempo. Jetzt biege ich auch schon in die Boylston Street, das Ziel ist sichtbar.
Ziemlich weit weg noch – 500 Meter? Das wird knapp. Alle Maschinen auf Vollgas und beißen, was das Zeug hält: Schlusssprint. Nur noch ein voller Anreiber kann mich stoppen. Noch mehr Endorphine machen sich breit. Mein Körper bleibt mir treu, denn ich laufe schon lange nicht mehr. Ich bin schon eine sehr lange Zeit nur noch Beifahrer. Die Arbeit leistet nur noch mein Körper und ich habe nichts mehr zu tun als ihn zu bewundern.
Noch 100 Meter. Noch 50. Ja, es geht sich aus! Weltklasse! In 2:59:31 Stunden überquere ich die Ziellinie des 114. Boston Marathons.
Mein 5. Marathon in Folge unter drei Stunden. Ich gehe die ersten Schritte und genieße. Ein hartes Stück Arbeit liegt hinter mir. Noch dazu sehr, sehr gute Arbeit. Das war kein leichter Marathon. Sicher nicht. Ich bin sehr zufrieden! Vor allem weil ich das letzte Drittel wirklich clever gelaufen bin. Einer meiner besten Marathons!
Ich nehme meine Medaille in Empfang, fasse ordentlich an Riegel und Drinks am PowerBar Stand aus und hole mir meine Wechselkleidung. In der Family Meeting Area ziehe ich mich um. Es ist sehr kalt und es gibt keine Duschen. Egal, die frische Kleidung tut gut! Und dann endlich ist Sylvia da. Umarmung, Küsse! Was für ein Tag. Jean-Pierre, Susi, Julian und Stefan sind ebenfalls da.
Freudige Aufgeregtheit. Was für ein Erlebnis. Wir rufen ein Taxi und fahren zum Jakob Wirth auf ein Paulaner Hefeweizen und Clam Chowder und stoßen auf einen großartigen Tag und ein eindrucksvolles Erlebnis an.
Das Ergebnis: 2:59:31 Stunden, 6:51 min/mile, 4:15 min/km, Rang: 1.282, bester Österreicher
5k: 0:20:01 min – 4:00 min/km
10k: 20:59 min – 4:11 min/km (0:41:00 min)
15k: 20:54 min – 4:10 min/km (1:01:54)
20k: 21:07 min – 4:13 min/km (1:23:01)
Half: 1:27:32 Std.- 4:08 min/km
25k: 21:18 min – 4:15 min/km (1:44:19)
30k: 22:30 min – 4:30 min/km (2:06:49)
35k: 21:58 min – 4:23 min/km (2:28:47)
40k: 21:44 min – 4:20 min/km (2:50:31)
42,2k: 9:00 min – 4:05 min/km (2:59:31)
2nd half: 1:31:59 Std – 4:21 min/km
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