Der zehnte Marathon

Die Schlacht ist geschlagen, der weite Weg gegangen, die zweiundvierzigtausendeinhunderfünfundneunzig Meter überwunden. Die holprige Vorbereitung schien alle Anhaltspunkte in Hitzeflimmern aufzulösen, die hehren Ziele für meinen 10. Marathon in ungewisse Vorgaben zu schmelzen. Nach einem Therapie- und Massagemarathon in der letzten Woche vor dem Lauf, begann mein hitzegebeutelter, ausgebrannter Körper am Mittwoch wieder positive Signale zu geben. Grünes Licht ward also gegeben für vier Mal zwei Kilometer im geplanten Marathonrenntempo. Die vergangenen Wochen muteten an wie eine Art Nachprüfung im Fach “Auf Körpersignale hören und sie verstehen” . Sie waren lehrreich genug, um nach diesem Probelauf schnell zu erkennen, was in Bregenz möglich sein würde.

Die Metapher mit dem Aufbruch ins Ungewisse erschien in diesem Lichte völlig unangemessen. Selten war mir so klar, was gehen würde und was nicht. Diese Erkenntnis brachte eine ungemeine Erleichterung mit sich und mit ihr eine unbeschwerte Lockerheit und eine selbstbewusste Gelassenheit. Meine ehrgeizigen Ziele hatte ich ohnehin längst ziehen lassen und so hatte ich nichts mehr zu verlieren und alles zu gewinnen . Ich wusste was zu tun war: durchkommen und einen Beitrag zum Teamerfolg leisten .

Diese Haltung und Gemütslage beschleunigten meine Erholung ungemein. Als ich nach neuen Stunden im Zug in Hohenems ankam, schlüpfte ich sogleich in die Laufschuhe und los ging’s spritzig wie schon seit Wochen nicht mehr.

Die Qualität meines Schlafes vor einem Marathon war wie immer schlecht, aber auch das konnte meiner Ruhe und Überzeugung wenig antun. Natürlich spürte ich eine Anspannung. 42,2 KM sind eine Herausforderung. Geist und Körper wissen das am Tag vor dem großen langen Lauf. Aber sie gaben mir auch jene Signale, die mir sagten, dass es ein gutes Rennen für mich werden könnte. Dabei hätte mein Verstand mehr als genug Gründe dafür finden können, dass der Sonntag in einem Fiasko enden würde. Immerhin blickte ich auf die schlechteste Vorbereitung meiner fünfjährigen Marathonkarriere zurück.

Zum Glück ist alles nur eine Frage der Perspektive und so wie man das eine denken und sich plausibel und rational erklären kann so kann man das auch mit dem genauen Gegenteil. Nicht, dass ich mich groß bemühen oder Mentaltraining machen musste, diese Haltung war einfach da, eingebrannt durch die Erfahrungen der letzten verzweifelten Trainingswochen.

Da der Marathon erst um 11:11 Uhr startete, gestaltete sich der Sonntag Morgen ungewohnt gemütlich. Wir konnten bis 7 Uhr schlafen, ohne Zeitdruck frühstücken und die Reise nach Lindau mit dem Zug mit einem komfortablen Zeitpuffer in Angriff nehmen.

Das Wichtigste am Renntag ist für mich die Ernährung. Ich halte mich an einen strickten Zeitplan der Nahrungsaufnahme, um mit vollen Depots und möglichst geleertem Darm an den Start gehen zu können. Mit jedem gelaufenen Marathon ist mir klarer geworden, dass ich mir mit einer überlegten Nahrungsaufnahme das Marathonleben ungemein erleichtern konnte. Der Verzicht auf Kaffee, um Koffein aus zu leiten und auf die Aufnahme von Zucker hatten mir sehr gut getan – hier konnte ich sehr von der Ernährungsberatung meiner Frau Sylvia profitieren. So stieg ich physisch und psychisch ziemlich unbelastet in den Starblock.

Ich hatte mir eine konservative Strategie zurecht gelegt. Die ersten 28 Kilometer wollte ich möglichst gut überstehen, um vielleicht auf den letzten 14 Kilometern noch etwas Gas zu geben.

Der Start zum Bregenz Marathon befindet sich auf der wunderschönen Insel Lindau. Der hartnäckige Hochnebel gab pünktlich zum Start der kräftigen Herbstsonne soviel Raum zur Entfaltung, so dass der Start zu den Österreichischen Marathonmeisterschaften in herrlicher Herbstkullisse erfolgen konnte.

Mit dem Startschuss überwindet die nervöse Menge die ersten Meter als wäre der Teufel hinter ihr her – die meisten viel zu schnell. Ich halte mich zurück, den ersten Kilometer stoppe ich trotzdem mit 3:49 Minuten. Das erste Viertel dieses Laufs durch drei Länder führt entlang der Uferpromenade des Bodensees in Richtung Bregenz. Die vielen schattenspendenden Bäume lassen vergessen, dass die Sonne die Oberhand behalten und mit der letzten vom Sommer übrig gebliebenen Energie die Luft erwärmt.

Nach drei Kilometern pendelt sich mein Kilometerschnitt zwischen 4:00  und 4:03 min/km ein. Vor mir tauchen Roman Weger und Sylvie Tramoy auf. Weger, österreichischer Staatsmeister aus dem Jahr 2010, macht den Tempomacher für seine Mannschaftskollegin, das ist nicht zu übersehen. Ich erkenne sofort die glückliche Fügung. Dieser Profi würde einen professionell gezeiteten Marathon laufen – mein Gespür sollte mich nicht trügen.  Ich reihte mich hinter den beiden ein. Das von Roman angeschlagene Tempo könnte vielleicht ein, zwei Sekunden schneller sein, aber ich habe keinen Grund zur Eile. Auf den frühen Kilometern eines Marathons zählt nur eines: Geduld. Wer sich hier von seiner Spritzigkeit verführen lässt, läuft Gefahr für seine Unbekümmertheit bitter zu bezahlen – spätestens auf den letzen sieben Kilometern.

Romen läuft wie ein Uhrwerk Kilometerzeiten von vier Minuten drei Sekunden. Ich stoppe jeden absolvierten Kilometer und weiß, dass ich mir um das Tempo keine Sorgen machen muss – und sage mir, dass ich ich auch noch bei Kilometer 28 schneller werden kann. Mein Puls schwankt zwischen 152 und 153 Schlägen in der Minute. Er bewegt sich nur langsam rauf. Damit stellt sich noch mehr Zuversicht ein.

Kurz vor dem Viertelmarathon erwartet uns ein ganz besonderer Höhepunkt: wir laufen direkt über die Bregenzer Seebühne. Ich habe ungefähr 20 Sekunden Zeit das Bühnenbild zu betrachten – ein eindrücklicher Augenblick. Dann heißt es wieder konzentriert zu sein, denn die Strecke ist in diesem Abschnitt sehr eng und kurvig. Der Sonneneinstrahlung beuge ich mit ausgiebigen Wasserduschen vor. Bei jedem der Verpflegungsstände gieße ich mir ein bis zwei Becher Wasser über den Kopf. Eigenverpflegung nehme ich zum ersten Mal bei Kilometer 10 auf: 500 ml Enervit mit einem Löffel AM Sport. Damit komme ich locker über die nächsten fünf Kilometer. Weiter geht es entlang des Bodensees in Richtung Süden nach Hard. Kurz nach dem Halbmarathon, den ich in 1:25:25 Std absolviere, überqueren wir die Grenze bei St. Margarethen. Roman Weger zieht das Tempo merklich an. Wir werden die nächsten zehn Kilometer zwischen 3:55 und 4.00 min pro Kilometer zurücklegen. Aus unserer Gruppe bleiben nur noch Roman, Sylvie und ich übrig. Der Rest fällt ab.

Ich befinde mich zum ersten Mal in der Schweiz. Anfangs grüßt uns noch eine größere Kuhglocken schwenkende Fangruppe. Das Zuschauerinteresse in der Schweiz hält sich fortan jedoch in Grenzen. Den Großteil der nächsten 15 Kilometer laufen wir durch menschenleere Straße. Nach einer schwierigen serpentinenartigen Passage bei Kilometer 29 erreichen wir den Rhein-Kanal, auf dessen Damm es zurück in Richtung Bregenz geht.

Die Wetterverhältnisse haben sich seit wir in der Schweiz unterwegs sind markant geändert. Der Hochnebel hat den Himmel zurückerobert und in Abwesenheit der Sonne ist es merklich kühler geworden. Entlang des Rhein-Kanals bläst uns unangenehmer Gegenwind ins Gesicht. Ich möchte in unserer Gruppe einen Beitrag leisten und stelle mich in den Wind. Wir holen die an vierter Stelle liegende Dame ein und kurz vor Kilometer 31 schlucken wir auch die viel zu schnell gestartete Karin Freitag von Kolland Topsports. Auf den letzten 10 Kilometern wird sie mehr als vier Minuten auf uns verlieren.

Wir erreichen wieder jene Brücke über den Rhein, die wir auf dem Weg in die Schweiz überqueren mussten, und treffen hier auf uns entgegenkommende Läufer. Die Laufrichtungen sind nicht mit Markierungshütchen markiert. Manche langsamere Läufer und Walker kommen uns auf unserer Seite entgegen oder gehen nebeneinander, sodass es immer wieder eng und schwierig wird, durchzukommen. Ich bemerke, dass mir die Rhein-Passage sehr viel Substanz gekostet hat. In meinem linken Oberschenkel kündigt sich eine Verhärtung an. Ich pflege sie mit Salztabletten und einem zweiten Gel – das erste hatte ich bei der Halbmarathondistanz genommen. Das Gel bekomme ich fast nicht hinunter, falle etwas zurück, kämpfe mich wieder zurück. Bei Kilometer 35 geht es mir wieder gut, und ich versuche, aus der Gruppe wegzukommen. Schnell wird mir klar, dass die Temposteigerung zu den weniger guten Ideen des Tages gehört und so bin ich die nächsten Kilometer damit beschäftigt, den Anschluss an meine Gruppe zu halten.

Ich laufe ca 15 Meter hinter Weger und Tramoy als wir die 40 KM Marke und die Zeitnehmungsmatten passieren. Ich höre, wie die Matten piepsen als meine Vorläufer sie passieren . Nun bin ich an der Reihe. Ich laufe über die Matte. Das Piepsen bleibt aus. Ich blicke nach unten  und sehe keine Startnummer. Ich verschiebe das Startnummernband – die Startnummer befindet sich vielleicht auf der Hinterseite meines Körpers. Aber da ist nichts. Natürlich nicht, denn sonst hätte es gepiepst. Es ist Gewissheit: Ich habe meine Startnummer verloren. Ich rufe nach vor zum Begleitradfahrer der drittschnellsten Dame . Er lässt sich zu mir zurückfallen und ich bitte ihn nach hinten zu fahren, um meine Nummer zu suchen. Ich bin nämlich überzeugt, dass ich sie zwischen Kilometer 35 und 40 verloren habe. Während er so freundlich ist, und zurück fährt, laufe ich wieder zu meinen zwei Begleitern auf. Gemeinsam nähern wir uns dem Casino Bregenz Stadion. Plötzlich ist der Begleitfahrer wieder da – mit schlechten Nachrichten, denn er hat meine Startnummer nicht gefunden. Wenn so etwas nach 41 gelaufenen Marathonkilometern möglich sein kann, dann versetzt mich seine Nachricht in einen Schockzustand. Während ich weiterlaufe, suche ich nach Lösungen und brenne mir eine Überzeugung in mein Bewusstsein: Es kann einfach nicht sein, dass ich nicht gewertet werde. Wir laufen ins Stadion ein, noch 250 Meter. Nach Schlusssprint ist mir nicht zumute. Priorität haben jetzt nicht mehr die zehn durch einen guten Schlusssprint gewonnen Sekunden oder eine Rang-Verbesserung, ich will nur noch eines: gewertet werden.

In 2:50:49 Std überquere ich die Ziellinie, mit einem negativen Split – den zweiten Halbmarathon bin ich in 1:25:24 Stunden gelaufen. Im Moment ist mir das jedoch vollkommen egal. Ich gehe sofort zum Wettkampfrichter und erkläre ihm was passiert ist. Roman Weger, mit dem ich den gesamten Marathon gelaufen bin, und der Begleitfahrer bestätigen mein Malheur. Der Wettkampfrichter nimmt mich ins Klassement auf.

Zusammen mit Vinzenz Kumpusch, der mit einer neuen persönlichen Bestzeit von 2:31:16 Std auf den vierten Gesamtrang gelaufen war und in der AK-M35 den Vize-Staatsmeistertitel errang, und mit Christian Kleineberg, mit 2:46:01 Std etwas unter seinen Erwartungen geblieben, trank ich gleich mal auf den Schock ein Erdinger Alkoholfrei. Jetzt hieß es warten auf die Siegerehrung, denn wir wussten, dass einige Topteams, wie Kolland Topsports und CLUB Laufimpuls Salzburg, nur zwei Läufer ins Ziel gebracht hatten. Unsere Chancen auf einen Stockerlplatz waren plötzlich enorm gestiegen.

Als die Siegerehrung begann, forderte mich Christian auf, nochmals zu prüfen, ob meine Wertung wirklich akzeptiert wurde. Wir machten uns auf den Weg in Richtung Zeitnehmung und trafen dort jenen Wettkampfrichter, der meine Zeit aufgenommen hatte. Er begrüßte uns mit einer Hiobsbotschaft. Meine Zeit war abgelehnt und aus der Wertung genommen worden.

Diese Entscheidung hatte der Präsident des ÖLV getroffen. Er war das Organ mit der letzten Entscheidungsgewalt. Ihn hatten wir schnell gefunden und schilderten ihm nochmals die Situation. Er war gesprächsbereit. Wir prüften meine Kilometerzeiten bei der Zeitnehmung. Es stellte sich heraus, dass meine letzte offizielle Zwischenzeit von Kilometer 15 stammte. Ein neuer Schock.

Glücklicher Weise hatte ich jeden passierten Kilometer händisch gestoppt. Meine Kilometerzeiten wurden akribisch unter die Lupe genommen, mit den Zwischenzeiten von Roman Weger verglichen und schließlich meine Zeit akzeptiert. Ich wurde wieder ins Klassement aufgenommen. Für die Teamwertung bedeutete das den Vize-Staatsmeistertitel im Marathonin 8 Stunden 8 Minuten.

Überglücklich stieg ich bei der Siegerehrung auf das Podest. Ein Pech und Pannen Marathon hatte ein glückliches Ende genommen.

Zusammen mit Lorenz Kumpusch, der uns nicht nur nach Bregenz begleitet sondernd uns auch beim Marathon und auch als Sponsor unterstützt hatte, und Heidrun Engl feierten wir unseren Erfolg bei einem exzellenten Abendessen im Gasthof Adler in Hohenems und ließen den Abend mit anregenden (Lauf-)Gesprächen und dem einen oder anderen Fohrenburger ausklingen. Soviel auch bei diesem Marathon schief gegangen war – Vinzenz’ Schuhband Problem und die falsch genommene Abzweigung, die verlorene Startnummer, um nur die prominentesten Missgeschicke zu nennen -; wir hatten unser großes Ziel erreichen können indem wir auf das Podest gelaufen waren. Damit stellte sich eine große, allseits spürbare Erleichterung ein, vor allem auch eine Dankbarkeit für alle die uns in der anstrengenden Vorbereitungsphase unterstützt hatten, allen voran für unsere Partnerinnen – danke Sylvia für Dein konstruktives Feedback, Deine Geduld und Dein Verständnis – die so oft auf uns verzichten mussten, während wir draußen in der sengenden August- und Septemberhitze die Kilometer vom Asphalt leckten; aber auch Dankbarkeit für unseren Körper, ohne deren Einverständnis eine solche Anstrengung niemals möglich gewesen wäre! Ich denke, ein jeder von uns, einige bewusster, einige unbewusster, sagten still und leise einfach Danke!

Ganz besonders möchte ich mich hier nochmals im Namen aller bei Heidrun bedanken. Sie gewährte uns Unterkunft in ihrem bescheidenem Heim, und fuhr uns zu allen wichtigen Terminen und Plätzen. Sie erleichterte unsere Marathonvorbereitung enorm und schoss noch dazu einige tolle Bilder. Im Namen des ganzen Teams: Ein großes Dankeschön, Heidrun, es war einfach Spitze bei Dir!

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